Meine
rechte Hand holt weit aus. Der Grund? - Ich weiß ihn nicht
mehr. Er ist
nicht relevant - jedenfalls für mich. Für mich
zählt nur, dass ich
gerade dabei bin, ein Tabu zu brechen. Ein Tabu, dass ich mir vor
vielen Jahren auferlegt hatte. Damals, an dem Tag, als meine Mutter
mich mal wieder verdrosch:
"Du lügst!" Kreischt sie,
während sie
mich verzweifelt mit einer Hand festhält und mit der anderen
auf meinen
Po haut. Ich konzentriere mich, bloß jetzt nicht heulen,
bloß nicht
eingestehen, dass es mir weh tut. Den Gefallen will ich ihr
nicht tun. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. "Gib endlich zu, dass du
die Mohrrübe gestohlen hast." - Weitere Schläge
treffen mich am Po und
auch am Rücken, da ich versuche, mich zu
entwinden. Ja, ich
habe
sie geklaut und gelogen aber das werde ich nie zugeben, weil ich es
nicht verstehen kann, dass sie mich deswegen verprügelt.
Zusammen mit
einer Freundin war ich an dem Gärtchen vorbeigegangen, kein
Zaun, die Versuchung war groß, diese frühen
zarten Möhren lockten uns, schnell zog ich eine aus der
schwarzen Erde,
wischte sie mit dem Jackenärmel sauber und aß sie
sofort auf.
Irgendjemand musste uns dabei beobachtet haben. "Das Eine kann ich dir
sagen" - Klaps auf den Po - "du - lügst mich" - jetzt erwischt
sie mich am rechten Ohr - "nicht - wieder - an!"
Ich
kann mich losreißen, krabbele unter das Bett. Meine Mutter
greift sich
den Kleiderbügel, der am Schrank hängt. "Komm sofort
raus", keift sie,
bückt sich, schaut unters Bett, versucht mich mit dem
Bügel zu treffen.
Mit dem Ende erwischt sie mich. Ich beiße in meine Hand, um
nicht
aufzuheulen, quetsche mich
in die äußerste Ecke. Irgendwann beruhigt sie sich.
Zitternd
verschwinde ich unter meiner Bettdecke, kuschele mich ein und weine
lautlos in mein Kissen.
Nie, das schwöre ich, nie werde ich
meine Kinder schlagen. Nie werde ich sagen: "Du lügst!" -
großes
Indianer-Ehrenwort!
Dieses
Tabu habe ich bis heute nicht gebrochen. Jetzt steh ich in der
Küche
mit
erhobener Hand, die auf meine jüngste Tochter hinuntersausen
will.
Meine Wahrnehmung hat sich verändert. Ich sehe die Hand, wie
sie im
Zeitlupentempo ihrem Ziel immer näher kommt. In mir tobt ein
Kampf
zwischen dem Reflex zuzuschlagen und dem Tabu, das ich mir gesetzt
habe. Wenn ich ein einziges Mal, nur ein einziges Mal diese
Hemmschwelle übertrete, werde ich es immer wieder tun, denke
ich. So,
wie die erste Fliege, die ich getötet hatte. Seitdem patsche
ich alle
Fliegen im Haus tot.
Meine
Hand, sie senkt sich weiter, unerbittlich nähert sie sich dem
Gesicht
meiner Tochter, wie der Zeiger einer Uhr. - Eine sonst
zärtliche,
sanfte Hand, die gerne streichelt, verwöhnt. - Ich will nicht
schlagen.
Mir
fällt das Vogelei ein, das ich als Kind unter meiner
Achselhöhle
ausbrüten wollte, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass, wenn
ich es
dort ausbrüte, daraus
ein Wundervogel wird. Das Ei zerbrach, darüber war ich sehr
erschrocken. Ich hatte Leben zerstört! Ein Vogel, das war mehr
als eine
Fliege! - Mehr Leben als eine Fliege? Wo fängt der Respekt vor
dem
Leben an? Die Hemmschwelle bei Mördern ist scheinbar sehr
niedrig.
Warum können Soldaten töten? – Ich glaube,
wenn sie den Ersten
erschossen haben, fällt es ihnen wohl leichter den
Nächsten zu töten.
Viele,
viel zu Viele werden misshandelt, getötet nur weil einmal die
Hemmschwelle zur Gewalt überschritten wurde.
Um
einige Minuten ist sie weitergerückt, die Hand. - Ich schaue
meine
Tochter an. Da steht sie vor mir, mit strubbeligem Haar, verschwitzt
vom Toben draußen, vom Streiten. Es ist mir bewusst, dass ich
ihr
Vertrauen mit einem Schlag zunichte
machen kann. Gerade eben noch stampfte sie selbstbewusst mit ihren
kleinen Füßen auf den Boden. Doch jetzt? Sie sieht
meine erhobene Hand,
spürt, dass ich es ernst meine. Die Augen meiner Tochter
weiten sich,
ungläubig sieht sie mich an, ihr Mund steht offen.
Ich
spüre, wie meine Hand abgebremst wird, aber es ist bereits zu
spät. Der
Reflex war stärker.
ENDE