Die
Orgel stimmte 'Oh, du
Fröhliche' an. Sofia sang mit, erst ein wenig
zurückhaltend;
mit jeder weiteren Strophe fühlte sie sich befreiter,
sicherer;
ihre kräftige Stimme schaffte sich Raum, verband sich mit den
anderen Stimmen.
Während der Predigt schweiften ihre Gedanken ab. Die Mutter
war
ihr in der letzten Zeit unheimlich geworden. Nicht, weil sie dauernd
schimpfte und mitunter um sich schlug, damit kam sie zurecht; sie
konnte sich beinahe unsichtbar machen oder flüchtete zu den
Nachbarn. Nein, ihr war aufgefallen, wie sich die Augen ihrer Mutter
veränderten, wenn sie wütend wurde. Diese Augen,
riesig
groß; in tiefen Höhlen lagen sie in dem schmalen,
bleichen
Gesicht; die dunklen Schatten und kräftigen Brauen
verstärkten den Eindruck noch. Sie trug eine Brille wegen
ihrer
Weitsichtigkeit, dadurch sah man die blauen Augen wie durch ein
Vergrößerungsglas. Mitunter schielte sie, besonders
wenn sie
zornig wurde, dann verengten sich die Pupillen und die linke Iris
rutschte stärker zu Seite. Diese Augen - Sofia hatte mitunter
das
Gefühl als ob diese Augen sie auffressen wollten. Sie
fürchtete sich und das war einer der Gründe, warum
sie sich
innerlich immer mehr von ihrer Mutter entfernte. Das spürte
die
Mutter natürlich und sie machte ihr Vorwürfe:
"Früher
warst du ganz anders ... du hast mich nicht mehr lieb!"
Eine Zeitlang hatte sich Sofia gegen diese Vorwürfe innerlich
gewehrt, lag weinend im Bett und konnte es nicht verstehen, dass die
Mutter solche Fragen stellte; warum glaubte sie ihr bloß
nicht, -
natürlich hatte sie ihre Mutter lieb. – Sonst gab es
Niemanden. Sofia sehnte sich nach einer richtigen Familie, mit Oma und
Opa, Tanten und Onkels, so wie sie es bei Rosi erlebt hatte. Mitunter
durfte sie nach der Schule mit Rosi nach Hause gehen, das war
für
sie etwas Besonderes. Rosis Mutter verhielt sich anders.
Als sie noch in der ersten Klasse war, hatte sie ihr erzählt,
dass
sie schon lesen konnte. Rosis Mutter glaubte ihr erst nicht, sie gab
ihr eine Zeitung und bat sie, daraus vorzulesen. Als sie dann
zügig ein paar Sätze vorlas, staunte sie und lobte
sie sehr.
Oft hatten sie gemeinsam den Schulranzen aufgeräumt und
gesäubert. Selbst wenn sie ihr Lügenmärchen
erzählte, was Rosis Mutter schnell durchschaute, schimpfte sie
nicht, sondern sagte jedes Mal: "Du kannst mir vertrauen, Sofia. Es ist
mir lieber, wenn du mir die Wahrheit sagst."