Der
Nordermarkt in Flensburg sah genau so aus, wie vor 20 Jahren, stellte
Sybille angenehm überrascht fest. Die Fassaden waren
inzwischen
liebevoll restauriert worden, das Kopfsteinpflaster verbreitete
mittelalterliche Atmosphäre. Sie steuerte auf "Charlott-Eis"
zu, dort
gab es damals das beste Speiseeis. Schade, das Cafe,
äußerlich kaum
verändert, trug ein neues Logo, der Besitzer hatte wohl
gewechselt. Sie
kaufte sich eine Waffel mit drei Kugeln: Stracciatella, Nuss, Zitrone
und obendrauf eine Portion Schlagsahne, genau wie an jenem
verhängnisvollen Sommertag, an dem sie mit ihrer Schwester
Hilde und
ihrem kleinen Neffen, Jonas zur "Schatztruhe", einem
Antiquitätengeschäft in der
Rathausstraße gegangen waren.
Hilde
suchte nach einem besonderen Geschenk zum 10. Hochzeitstag.
Vor dem Schaufenster der "Schatztruhe" blieben Sie stehen. Es war
heiß
und das Eis in Jonas Hand taute schneller, als er schlecken konnte,
lief zwischen seinen Fingern hindurch und rann den nackten Unterarm
hinunter. Hilde nahm ihm schließlich die Eistüte aus
der Hand, kramte
ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und putzte ausgiebig an
Jonas herum, bis er einigermaßen sauber aussah. Als sie die
Tür zur
"Schatztruhe" öffneten, erklangen zarte melodische
Töne eines
Windspieles. Das gefiel Jonas und er öffnete und schloss ein
paar Mal
hintereinander die Eingangstür, bis der Besitzer - ein
älterer,
rundlicher Herr - des Ladens erschien.
"Schönen guten Tag,
meine Damen! Lassen Sie die Tür bitte offen, es ist heute sehr
warm",
sagte er und fächelte mit einem großen
Palmblatt, sodass die
schwül warme Luft, die fiebrig im Raume hing, in Bewegung
geriet.
Jonas
zerrte an der Hand seiner Mutter und flüsterte: "Ich
will in den Spielzeugladen, du hast es mir versprochen."
"Bitte,
Jonas, ich möchte hier ein Geschenk für Papa
aussuchen." Hilde löste
sich energisch von der Hand des Jungen.
"Hallo,
kleiner Mann", sagte der Besitzer und bückte sich zu dem
Jungen
hinunter. "Wie alt bist du?"
Jonas blickte
hilfesuchend zur Mama. "Sag's ihm", forderte sie ihn lächelnd
auf.
"Jonas,
und ich bin vier." Stolz zeigte er seine Hand, wobei er versuchte, den
Daumen in der Hand zu verstecken, was ihm nicht so richtig
gelang.
"Ich heiße Herr Petersen. Magst du
Märchen?“ – Er nahm
aus einem reich geschnitzten Mahagoni-Regal ein Buch, legte es auf den
ovalen Holztisch und angelte mit dem Fuß nach dem kleinen
Hocker, der
daneben stand.
„Hier habe ich ein schönes altes
Märchenbuch. Wenn du mir versprichst, die Seiten ganz langsam
und
vorsichtig zu blättern, darfst du es dir angucken. -
Und Sie
verehrte Damen?"
Der Laden hieß nicht nur
"Schatztruhe", er war auch eine. Alte Möbel und Kisten, Regale
voller
Kuriositäten, eine chinesische Kachel, eine kleine
Kutschen-Uhr,
diverse Skulpturen und Gemälde. Es schien kein System zu
geben, Uhren
lagen neben Kristallvasen und Blechspielzeug. Es herrschte eine, wie
Hilde mitunter zu Hause sagte, geniale Unordnung. So gab es viel zu
entdecken. Herr Petersen kümmerte sich höflich und
zuvorkommend um die
beiden Frauen, öffnete geduldig Schränke und
Schubladen, erklärte,
erzählte.
Hilde schaute sich nach Jonas um, da saß
er an dem Tischchen und blätterte in dem Märchenbuch.
Sie schmunzelte
in sich hinein, seit einigen Wochen liebte er es, wenn die
Omi ihm Märchen vorlas.