Wo bist du?
Warum
kann ich dich kaum erkennen? Dein Kopf. Rund. Nein, eher wie eine
flachgedrückte Melone. Kinnlange braunbläuliche
Haare, die links und
rechts platt und glatt von dem sonst kahlen Schädel
herunterhängen.
Dein dralles, wohlgenährtes Gesicht grenzt sich kaum von dem
roten
Hintergrund ab. Dieses zornesrote Licht, das dich ständig
umgibt.
Doch, wo sind deine Augen?
Wie oft hast du deinen Kopf schon in
den Sand gesteckt?
So wie an der Straßenecke, als sie
den Mann zusammenschlugen? Ja, diesen jungen Mann, den in den Jeans,
mit dem blaukarierten Hemd. Er wehrte sich kaum, sah zu dir
rüber. Sie
rissen ihm den Rucksack von der Schulter, schütteten den
Inhalt auf die
Straße. "Bücher, nichts als
Bücher", grölten sie und lachten.
Traten mit ihren Stiefeln nach dem jungen Mann, weil sie kein Geld in
den Jackentaschen fanden. Er versuchte aufzustehen, wollte wegrennen,
sah wieder zu dir. Da schlug Einer noch einmal zu. Der junge Mann
stolperte - die Steintreppe, du hast sie auch gesehen, nicht wahr? Er
schlug mit dem Kopf auf.
Plötzlich war es ruhig.
Ganz still. Du hast dich weggeschlichen.
Deine
Augen? - Sie sind versandet.
Wo steckt deine Nase?
Es
stinkt dir doch
alles, schon lange. Deine Kinder, die dich fragend anschauen, die dir
deinen Feierabend stehlen wollen, die dein hart verdientes Geld
für Eis
und Cola ausgeben und dann noch die Frechheit besitzen, dich am Sonntag
so früh zu wecken, weil sie ins Schwimmbad gefahren werden
wollen.
Selbst
deine Frau verweigert sich dir neuerdings. Du hast keine Freude mehr an
ihr. Seitdem kannst du sie nicht mehr riechen. Der Geruch
nach blumiger Vanille ist für dich zu schwach geworden. Du
brauchst
jetzt deftigere Gerüche. Seitdem steckst du deine Nase doch in
alle
feuchtwarmen Nischen.
Deine Nase? - Steckt im Schlamm, ist verstopft.
Was ist aus deinem
Mund geworden?
Sag schon, was?
Dieses Waffenarsenal,
gefüllt mit giftigen Pfeilen, ätzenden Spitzen.
Ja, sicher
du hast jedes Mal Recht gehabt. Deine Schwester hast du
angeschrien: "Verpiss dich mit deinem miesen Freund!" Sein
Versprechen, dir Geld zu leihen, konnte er nicht halten.
Und,
wie war das mit deinem Kollegen? Sein
Bericht kam ein einziges Mal zu spät. Ein einziges
Mal. "Ach,
auch schon da? Hat dich deine Schlampe aus dem Bett geworfen? - Leider
zu spät!" Nahmst das umfangreiche, handschriftliche
ausgefüllte
Dokument an dich. Seite für Seite wanderte in den
Häcksler.
Deine
Frau und die Kinder ducken sich sobald du in der Nähe bist,
weichen
deinen spitzen Buch-Staben aus.
Rechte Worte haben
Seelen verletzt.
Dein Mund? - Zerstochen, verätzt
von deinen eigenen Waffen.
Wo bist Du?
Warum
kann ich dich kaum erkennen? Dein Kopf. Rund. Nein, eher wie eine
flachgedrückte Melone. Kinnlange braunbläuliche
Haare, die links und
rechts platt und glatt von dem sonst kahlen Schädel
herunterhängen.
Dein dralles, wohlgenährtes Gesicht grenzt sich kaum von dem
roten
Hintergrund ab. Dieses zornesrote Licht, das dich ständig
umgibt.
Dein
Gesicht - du hast es verloren.
Vielleicht sind
deine Ohren noch da, hören die Tränen tropfen, die du
ausgelöst hast ... immerzu, immer lauter.
Januar
2004
Die Inspiration
zu dieser Allegorie entstand durch das
Bild "ohne
Titel " von Birgit Schaper
Mein Blick
verweilte lange auf diesem Bild von Birgit Schaper.
Es zog
mich magisch an. Die dominante rote Farbe, die den
gesamten Raum einnimmt. Von rechts oben, wie schwebend eine
Kugel, nichtssagend, rätselhaft. Dazu einen Text
schreiben?
Ich
legte das Bild erst einmal zur Seite. Mitunter kramte ich es hervor,
schaute es an.
Irgendwann fragte ich "Wo bist du?" -
Und meine Gedanken zu dem Bild sprudelten, überschlugen sich.